Der Begriff Heimat ist in unseren Tagen wieder sehr aktuell. Er beschreibt das Gefühl in der heutigen Zeit einen Platz zu haben, an den man hingehört, wo man so lebt, wie man ist. In früheren Zeiten war Heimat viel mehr, es war ein individuelles Rechtsgut, meist erworben durch Geburt, mit dem eine Person an die Gemeinde ihres Geburtsortes gebunden war.

Garantiert war es nur im Geburtsort. Wer wegzog, erwarb nicht automatisch Heimatrecht am neuen Ort, man musste sich darum bemühen und die Gemeinde entschied, ob es gewährt wurde. Beamte erwarben ihr Heimatrecht durch Amtsantritt, Frauen aus anderen Wohnorten durch Eheschließung und es gab auch die Möglichkeit sich das Heimatrecht nach 10 Jahren durchgehenden Aufenthalt in einer Gemeinde zu „ersitzen“. Das Dokument, das das Heimatrecht dokumentierte, war der Heimatschein. Gleichteitig war es ein Ausweispapier für den oder die Inhaber/in.

Das Heimatrecht bedeutete, dass die es innehabende Person im Falle persönlicher Not zu jeder Zeit in die Heimatgemeinde zurückkehren konnte. Dort hatte sie Anspruch auf minimalste Unterstützung (Unterbringung und Beköstigung, oft in Armenhäusern). Das Heimatrecht war unveräußerlich, nicht übertragbar auf andere und wurde nur verwirkt bei Rechtsbrüchen und begangenen Verbrechen. Verantwortlich für die Unterstützung war die „Nachbarschaft“, also die in dieser Gemeinde lebenden Menschen, ein Grund, warum es wenig Interesse gab, durchziehende Personen in der Gemeinschaft aufzunehmen, da das stets soziale Verpflichtungen und damit Belastungen auch in späterer Zeit nach sich zog.

Solange der Bewohner im Geburtsort blieb, brauchte er keinen Heimatschein, sein Recht war verbrieft im Geburtenbuch, dort stand jeder Getaufte, außerdem war man bekannt. Sobald man aber den Geburtsort für größere Strecken und längere Zeit verließ, benötigte man das Dokument. Es diente zum einen, um sich auszuweisen gegenüber Behörden oder an den zahlreichen Grenzen, die es damals in Deutschland gab, und es war Einlasspapier um durch das Stadttor in eine Stadt zu kommen. Man brauchte ihn auch, um sich an anderen Orten anzusiedeln oder um dort zu arbeiten. Wer jedoch dort verarmte und kein neues Heimatrecht dort erreicht hatte, wer arbeitslos oder straffällig wurde, der wurde – gegebenenfalls mit der Gewalt der Obrigkeit – in seine zuständige Gemeinde zurückgebracht.

Unser Finther Heimatschein zeigt, dass die Beschreibung der Person doch relativ ungenau ist und es gab – so wird berichtet - auch Fälle, in denen ähnlich aussehende Personen andere Heimatscheine benutzten, ebenso waren Fälschungen keine Seltenheit. Erschwerend hinzu kam, dass – wie auch in unserem Beispiel - die Schrift vieler Schreiber auf den Bürgermeistereien oft schwer zu entziffern war.

Unser Heimathschein ist ausgestellt von der Gemeinde Finthen, Großherzogtum Hessen, Kreis Mainz, im Oktober 1836 für eine Anna Maria Lehr, geboren 1813 (auch dies schwer zu entziffern). Der Schein enthält links eine Personalbeschreibung, die in unserem Falle eine Frau mit schwarzem Haar, ovaler Stirn, gewöhnlicher Nase und untersetzter Statur beschreibt. Sie scheint eine anständige Frau zu sein, denn der Schein attestiert ihrer Lebensführung: „Die Aufführung derselben ist gut.“

Der Schein bescheinigt Frau Lehr, dass sie in Finthen gebürtig ist und zu jeder Zeit nach Finthen zurückkehren kann, falls sie nicht an einem anderen Ort Heimathrecht erworben hätte. Das Dokument hat eine Gültigkeit von drei Jahren, sollte Frau Lehr bis dahin nicht zurückkehren und kein neues Recht erworben haben, musste der Schein in Finthen verlängert werden.

Der Heimatschein nennt auch den Anlass der Ausstellung: Frau Lehr begab sich nach Gonsenheim, um sich dort „fürderhin als Magd zu verdingen“. Das war damals sicher keine Seltenheit. Hatten kleinere Höfe sechs, sieben oder acht Kinder, dann mussten oft mehrere Kinder das Dorf verlassen, um sich andernorts als Knecht, Magd oder Handwerker zu verdingen. Es war auch oft üblich, dass die Mägde und Knechte zwischen den Jahren den Hof und oft auch den Ort wechselten. An Weihnachten wurde der Jahreslohn ausbezahlt und am 28.12., dem „Bündelchestag“ trafen sich die wechselnden Knechte und Mägde noch einmal zum Abschied. Das war auch in Finthen so Sitte und in der – leider geschlossenen – „Försterklause“ war es bis in die 90er Jahre üblich, diesen Tag am 28.12. zu feiern, aus Tradition halt, denn die, die da feierten, mussten nicht mehr wechseln.

Konnte man dort kein Heimathrecht erwerben und kam in ein Alter, in dem man nicht mehr arbeiten konnte, dann ging es zurück nach Finthen entweder in die Familie oder in die Notversorgung der Gemeinde. In Finthen wurden solche Personen zu dieser Zeit im ersten Stockwerk und im Nebengebäude des Rathauses untergebracht. Kurt Merkator


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