Der Judenpogrom am 10. November 1938 in Finthen
Der Zeitzeuge Prof. Dr. med. Benno König berichtet.
Der brutale unmenschliche Pogrom des 09. und 10. November 1938 im "Großdeutschen Reich" kam nicht unerwartet. Nachdem die Nationalsozialisten 1933 legal an die Staatsmacht kamen ("Machtergreifung") begannen sie die von Hitler in seinem Buch "Mein Kampf" bereits 1921 beschriebenen Ziele der Vernichtung der Juden konsequent anzugehen. Hitler schrieb u.a. in "Mein Kampf": "Wenn ich einmal an der Macht bin, dann wird die Vernichtung der Juden meine erste und wichtigste Aufgabe sein".
Der Deutsche Reichstag verabschiedete am 15. Sept. 1935 einstimmig das auf dem vorangegangenen Reichsparteitag in Nürnberg beschlossene "Gesetz zum Schutze des Deutschen Blutes und der Deutschen Ehre". Das darin enthaltene "Blutschutzgesetz" verbot die Eheschließung zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes (Rassenschande). Die sogenannten "Nürnberger Gesetze" schufen in ihrer Gesamtheit die juristischen Voraussetzungen und Absicherungen für die bereits 1933 begonnenen Diskriminierungen, Diffamierungen und Verfolgungsmaßnahmen. Boykottaufrufe gegen jüdische Geschäfte, jüdische Ärzte, jüdische Krankenhäuser sowie sonstige jüdische Institutionen waren an der Tagesordnung ebenso wie Enteignungen und Entrechtlichungen jeder Art (Arisierungen).
Am 07. Nov. 1938 schoss der 17jährige Jude Herschel Grynszpan in Paris auf den deutschen Legationsrat Ernst Eduard vom Rath und verletzte ihn schwer. Vom Rath starb am 09. Okt. 1938 an den Verletzungsfolgen.
Der Mord in Paris bot den Nationalsozialisten den gewünschten Anlass um die lange vorbereiteten Aktionen gegen die Juden in Deutschland in Gang zu setzen. Reichspropagandaminister Göbbels instruierte am Abend des 09. Nov. 1938 in München "alte Kämpfer" im Hofbräuhaus wie vorzugehen sei: Der vorgesehene Pogrom sollte nach außen als spontane antisemitische Aktion des deutschen Volkes gegen den feigen Meuchelmord erscheinen. Die Partei sollte keinesfalls als Urheber in Erscheinung treten, in Wirklichkeit aber doch das gesamte Geschehen organisieren und durchführen. Noch in der Nacht wurden landesweit SA-Verbände telegrafisch und tele-fonisch aktiviert. Die dem Regime gleichgeschaltete deutsche Presse schrieb vorbereitend: "Es ist selbstverständlich, dass sich die Empörung des deutschen Volkes gegen das Judentum richten wird". Bereits in der gleichen Nacht begann der Reichspogrom (Reichskristallnacht). Das Pariser Attentat, dass die Reichskristallnacht auslöste, war aber, wie sich bald herausstellte, keine politische sondern eine Beziehungstat im homosexuellen Milieu. Diese Erkenntnis durfte selbstverständlich nicht öffentlich bekannt werden und wurde erfolgreich unterdrückt.
Als Schüler im zehnten Lebensjahr erlebte ich das gesamte entsetzliche Geschehen des Judenpogroms in Finthen am Donnerstag, den 10. Nov.1938.
Nach den beiden ersten Unterrichtsstunden waren 2 Stunden Turnen im Lehrplan unserer Klasse vorgesehen. Unser Turnlehrer, der gleichzeitig der Ortsgruppenleiter, also die höchste politische Instanz verkörperte, erschien vor der Klasse und teilte mit, dass der Turnunterricht heute ausfalle und wir die Gelegenheit wahrnehmen sollten mitzuerleben wie Finthen den Juden seine Empörung über den Mord an einem deutschen Diplomaten durch einen ihrer Glaubensbrüder zeigen werde.
Die Mehrzahl meiner Mitschüler freute sich über die schulfreie Zeit und ging nach Hause. Ich entschloss mich - schon seit früher Kindheit politisch sensibilisiert - mir anzusehen was da geschehen sollte. Auf meinem Weg von der Schule in der "Straße der SA" (der heutigen Lambertstraße) zur Adolf-Hitler-Straße (der heutigen Poststraße) stieß ich schon auf eine Gruppe von mit Stöcken, Äxten und Beilen bewaffneten Männern, unter denen sich auch ein uniformierter Polizist befand. Die Gruppe kam aus der Gaststätte "Zum Jungenfeldt'schen Garten" wo die Parteiführung die nötige Instruktionen gegeben hatte. Es schien auch, das Alkohol konsumiert worden war.
Die Horde zog, antisemitische Sprüche brüllend, die Adolf-Hitler-Straße in Richtung Saarstraße (heute Kurmainzstraße / Flugplatzstraße) hoch zum Judenhof, wie damals der in die Adolf-Hitler-Straße einmündende Teil der Neugasse (heute Henry-Dunant-Straße) im Volksmund genannt wurde. In den Häusern Adolf-Hitler-Straße 11 und 13 wohnten jüdische Mitbürger. Im Hause Nr. 11 das Ehepaar Haenlein, in Nr. 13 die Familien Marx und Winterfeld, zu denen auch unser Klassenkamerad Manfred Winterfeld gehörte. Die fanatisierte Nazihorde drang gewaltsam in die Wohnungen ein, zerschlug alle Fensterscheiben, zertrümmerte Wohnungsinventar und warf Wäsche, Einrichtungsgegenstände, Geschirr, Bestecke, Lebensmittel und Federbetten durch die zertrümmerten Fenster auf die Straße. Aus den Wohnungen drang das angstvolle Schreien und Weinen der Frauen. Herr Haenlein, der mit Entsetzen feststellte, dass sich unter den Schlägern auch ein Nachbar befand mit dem er nie Differenzen hatte, bemühte sich in größter Erregung unter Hinweis auf seinen Patriotismus und auf die Auszeichnung mit dem Eisernen Kreuz erster und zweiter Klasse im Weltkrieg das grauenvolle Geschehen abzuwenden. Er erntete nur höhnisches Gelächter. Alles was auf die Straße geworfen worden war wurde angezündet und verbrannt.
Die Nazigruppe zog danach zum Haus der jüdischen Familie Grau in der Herbert-Norkus-Straße 5 (heute Bierothstraße). Das Haus der Familie Grau wurde später abgerissen und durch den heutigen Bau ersetzt. Herr Grau senior war Metzger und Viehhändler. Er stellte sich in die Eingangstür seines Hauses mit großem Fleischermesser in der Hand. Mit vorgehaltener Pistole zwang der Polizist der Nazibande Herrn Grau den Hauseingang freizumachen. Auch hier wurde in gleicher Weise wie bei Haenlein, Marx/Winterfeld demoliert, Einrichtungsgegenstände, Lebensmittel, Geschirr landeten auf der Straße und wurden verbrannt. Einer der Nazis riss einen schreienden jüdischen Säugling aus seinem Bettchen, hielt ihn aus dem Fenster im zweiten Stock des Hauses Grau und schrie: "Soll ich den Juddebankert enunner schmeiße?" Die verzweifelt schreiende Mutter stürzte sich auf diesen Nazi und es gelang ihr den Säugling an sich zu reißen und damit sein Leben zunächst zu retten. Herr Grau lief noch immer mit starrem Blick leichenblass vor Erregung in seinem Anwesen hin und her, noch immer das Messer in der Hand. Kein Wort kam über seine Lippen.
Nächste Station war das Haus Kahn in der Adolf-Hitler-Straße 81 (heute Poststraße). Es stand dort wo sich heute der Penny-Markt befindet. Die Familie Kahn war wohlhabend, sie gehörte zu den wenigen Familien in Finthen, die damals ein Auto besaßen. Frau Kahn, eine elegante Dame in den besten Jahren, war an diesem Vormittag allein im Hause als die Nazi-Schergen gewaltsam in ihr Anwesen eindrangen und mit der bei den anderen Juden schon beschriebenen Brutalität demolierten, zerstörten und die auf die Straße geworfenen Gegenstände, Möbel, Lebensmittel, Kissen, Federbetten verbrannten. Ein neu hinzugekommener Nazi drang in die Garage des Anwesens Kahn ein und fuhr unter grölender Zustimmung des zuschauenden Mobs das Auto der Familie Kahn zum Müllplatz auf der Steige wo er es anzündete und verbrannte. Frau Kahn war unterdessen aus ihrem Haus geflüchtet und wankte durch ein Spalier von mittlerweile in großer Zahl die Straße flankierenden Nazi-Sympathisanten in Richtung Straßenbahnhaltestelle. Sie wurde von der fanatisierten Menge in übelster Weise beschimpft, wobei "Judenschlampe" und "Judenhure" noch die mildesten Ausdrücke waren.
Mit höchster Anerkennung und Bewunderung erinnere ich mich daran, dass die Bäckersfrau Frau Maria Pfaff, geb. Schmitt Frau Kahn durch Zuruf anbot zu ihr in die Bäckerei zu flüchten um sie zu schützen. Frau Kahn bedankte sich und rief zurück: "Liebe Frau Pfaff, wenn ich jetzt zu Ihnen komme, sieht Ihr Haus in einer halben Stunde genauso aus wie das meine". Womit sie zweifellos recht hatte.
Während des gesamten Judenpogroms am Vormittag und Mittag des 10. Nov. 1938 war das Angebot von Frau Pfaff die einzige humanitäre Geste und das einzige Hilfsangebot an jüdische Mitbürger in ihrer Bedrängnis. Außer den Nazis und ihren Sympathisanten tolerierte die Finther Bevölkerung in absolut passiver Starre, wahrscheinlich aus Angst, schweigend das Geschehen. Keiner wagte sich auch nur flüsternd zu Nebenstehenden zu äußern. Es rührte sich keine Hand zur Hilfe, nirgendwo eine Geste des Mitgefühls oder des Mitleids.
Letzte Station des unmenschlichen grauenvollen kriminellen Geschehens war das Haus des Ehepaares Weiß in der Prunkgasse 8. Das kinderlose Ehepaar Weiß bestritt seinen Lebensunterhalt durch Obsthandel. Mit einem von einem kleinen Pferd gezogenen Gespann fuhren sie täglich solange es die Nazis zuließen - zum Markt nach Mainz wo sie ihr Obst verkauften. Sie waren freundliche zurückgezogen lebende Nachbarn, die mit niemandem Probleme hatten. Sie mochten uns Nachbarskinder und gaben uns oft Bonbons und andere Süßigkeiten. Das Ehepaar Weiß hatte Fritz Doll, einen taubstummen Mann, in die Familie aufgenommen. Er unterstützte sie bei ihrer Arbeit. Sein Hobby war die Geflügelzucht; seine Spezialität: Rhodeländer und rebhuhnfarbige Italiener. Auf Geflügelausstellungen errang er regelmäßig Preise für seine wunderschönen Tiere.
Auch hier im Hause Weiß das gleiche brutale Vorgehen der Nazis wie in den anderen Judenhäusern. Zu der Nazibande kam jetzt noch ein in der unteren Prunkgasse wohnender besonders scharfer Nazi dazu, der seine bekannte Gewaltbereitschaft in der bescheidenen Wohnung Weiß hemmungslos austobte. Außer dem Weinen von Frau Weiß war kein Wort vom Ehepaar Weiß, das starr vor Angst und Schrecken war, zu vernehmen. Nur das Brüllen antisemitischer Parolen und Beschimpfungen dröhnte aus dem Haus.
Der bei der Aktion beteiligte Polizist durchstöberte das gesamte Haus und fand im Obergeschoss Fritz Doll, den Taubstummen. Mit Gewalt prügelte er ihn aus dem Haus, er schrie ihn an, frug ihn nach Namen und seiner Beziehung zum Ehepaar Weiß. Seine Taubstummheit, die ihn daran hinderte zu antworten, bemerkte er nicht oder wollte sie nicht bemerken und deutete wohl sein Schweigen als Widerstand und Verstocktheit. Er setzte ihm die Pistole auf die Brustund drohte ihn zu erschießen. Da ich unmittelbar daneben stand rief ich ihm zu, dass Herr Doll taubstumm sei, was an seinem Vorgehen aber überhaupt nichts änderte. Er schrie auf ihn ein: "Du Schwein, du bist schlimmer als die Juden selbst, wie kannst du als Deutscher Knecht der Juden sein?". Das von Todesangst verzerrte Gesicht des armen Mannes, der überhaupt nicht fassen konnte was geschah, bleibt mir immer in Erinnerung.
Am Nachmittag wurden die wenigen noch in ihren zertrümmerten Wohnungen gebliebenen Juden aus den Wohnungen vertrieben und mussten sich zu Fuß nach Mainz begeben. Dort wurden sie in Gemeinschaftswohnungen untergebracht. Kaum hatten die jüdischen Familien ihre Wohnungen verlassen, strömten Finther Plünderer in die Häuser und raubten alles was noch brauchbar erschien schamlos aus. Die Polizei war angewiesen nicht einzugreifen.
Den Familien Grau und Kahn gelang die Ausreise nach Amerika. Alle anderen, auch mein Klassenkamerad Manfred Winterfeld, wurden deportiert und in Konzentratíonslagern ermordet.